Karriere-Alternativen, eigene Agenda, rauere Wirtschaft: In der Schweiz übernehmen Nachkommen nicht mehr einfach so die Firma der Eltern. Am meisten Konfliktpotenzial birgt der Take-over durch Söhne.

Der Entscheid war eigentlich schon gefallen. Aber ­Thomas Rüegg zog die Notbremse. Der 38-jährige Betriebswirt legte sein Veto ein gegen den Aufbau eines Produktions­standorts von Baumann Springs im Milliardenmarkt Indien. Und das kurz nach seinem Amtsantritt als CEO des familien­eigenen Unternehmens, das im sankt-gallischen Ermenswil Federn und Stanzteile für die Automobil-, Elektro- und Medizinalindustrie herstellt. Sein Vater, Hans Rüegg, der zuvor 27 Jahre der Chef im Hause gewesen war, hatte das Projekt noch aufgegleist.

Als der Sohn entschied, den Indien-Eintritt vorerst auf Eis zu legen, weilte der Daddy gerade in Asien – und war alles andere als erfreut, als er von der Kehrtwende hörte. «Da war er relativ sauer», erinnert sich Thomas Rüegg. Sein Vater streitet das nicht ab: «Es ist ein riesiger Unterschied, ob man die Entscheide selber fällen kann oder nicht. Ich musste das erst lernen.» In zwei Jahren wird Hans Rüegg (68) auch das Ver­waltungsratspräsidium bei Baumann Springs abgeben und wohl auch sein 30- Prozent-Mandat als Ingenieur, das er nach wie vor im eigenen Betrieb innehat. Dann wird die fünfte Generation der ­Familie alleine am Werk sein.

Auch Willy Michel (67) hat mit seinem Filius klar Schiff gemacht. Der Gründer des börsenkotierten Medizinaltechnikunternehmens Ypsomed in Burgdorf hat die Geschäftsführung letzten Juli seinem ältesten Sohn Simon übergeben und sich auf seine Rolle als Verwaltungsratspräsident und Delegierter beschränkt.

Angedacht war der Take-over schon seit 2006. Doch vorübergehend hatte mit Richard Fritschi ein Nicht-Familienmitglied als CEO installiert werden müssen. «Nichts ist schlimmer als ein Vater, der das Heft in der Hand hält und erst mit 70 merkt, dass es mal an der Zeit wäre, den Sohn zu fragen, ob er übernimmt», sagt der charismatische Willy Michel, der Ypsomed zu einer global tätigen Firma mit 1100 Angestellten und einem Umsatz von knapp 280 Millionen Franken aufgebaut hat. Einen Plan B für die Nachfolge hatte er nicht. «Aber natürlich hätte ich ein Nein akzeptieren müssen.»

Verweigerung

Und so ein Njet gibt es tatsächlich immer häufiger, wenn Firmen in die Hände der Kinder übergeben werden sollen. Knapp 64 000 KMUs in der Schweiz haben laut einer aktuellen Studie von Bisnode D&B ein Nachfolgeproblem – das heisst, es ist noch unklar, wer das Unternehmen dereinst führen wird.

Patchwork-Konstellationen, eine ambivalente jüngere Generation mit hohem Ausbildungsniveau, Multioptionsgesellschaft und – last but not least – ein härteres wirtschaftliches Umfeld machen es zunehmend schwierig, die Firma in den Händen der Familie zu belassen. Oder aber die Interessen der Nachfolgegeneration divergieren – Sika lässt grüssen. «Ich hätte mir auch eine Karriere in der Telekommunikationsbranche vorstellen können», sagt Simon Michel, der Neo-Chef von Ypsomed. Als ihn sein Vater auf das Thema Nachfolge ansprach, war Simon gerade auf dem Sprung nach Paris, wo er für Orange UMTS in mehreren Ländern hätte hochziehen können. Eine verlockende Alternative.

Dass sich die Jungen beruflich nicht mehr a priori dem Familienerbe widmen möchten, zeigt auch eine Untersuchung der Uni St. Gallen in Zusammenarbeit mit dem Beratungsriesen Ernst & Young. Unter dem Titel «Coming home or breaking free» wurden Studierende aus 26 Ländern mit Familienfirma im Hintergrund zu ihren Intentionen befragt. Das Resultat: Direkt nach dem Studium wollten nur gerade 6,9 Prozent in der elterlichen Firma einsteigen, fünf Jahre später waren es 12,8 Prozent. In der Schweiz wollten sich frisch ab Studium sogar nur drei Prozent der Befragten ins Business der Eltern bewegen – Spiegelbild eines privilegierten Arbeitsmarktes.

«In Entwicklungsländern können wir das Phänomen des Nachfolgezwangs beobachten, während wir in hoch entwickelten Ländern von Nachfolge-Opportunität sprechen», schreiben die Studienautoren. Im Nachfolgeindex, den sie nach verschiedenen Kriterien konzipiert haben, figuriert die Schweiz am unteren Ende (siehe Grafik «Die Familienfirma kann warten», Seite 60). Im Klartext: Die Schweizer können es sich leisten, auszuwählen.

Vor allem Söhne, die sich noch immer mit einer höheren Erwartungshaltung der Väter konfrontiert sehen, zieren sich gerne. Zwar haben die Eltern Gewicht, wenn es um Karriereentscheide der Sprösslinge geht. In der HSG-Umfrage gaben knapp 85 Prozent der Befragten an, dass ihnen die Meinung der Eltern sehr wichtig sei. Abgrenzung ist indes bei gleichgeschlechtlichen Nachfolgern ein wichtiges Thema. Söhne sammeln erst mal gerne bewusst Erfahrung ausserhalb von Vaters Reich – und tun gut daran.

Kontrastprogramm

Thomas Rüegg etwa wählte das komplette Kontrastprogramm, war nach dem Studium an der Uni Zürich mehrere Jahre als Gastrounternehmer tätig und betrieb in Zürich Szeneclubs wie das «Amber» und das «Jade». Heute absolviert er das disziplinierte Tagesprogramm eines klassischen Industrievertreters, der zurzeit mit den Folgen des starken Frankens zu kämpfen hat. Geblieben ist sein «People-orientierter», teambasierter Führungsstil, mit dem er sich bewusst vom Vater, der eher patronal leitete, abgrenzen will. «Für mich war es nicht gesetzt, dass ich diesen Job machen will und kann», sagt Rüegg. Erst als er für Baumann Springs ein Werk in Italien erfolgreich auf Vordermann brachte, wurde dem Ökonomen bewusst, dass sein Platz doch in der familieneigenen Firma sein könnte. Klar ist: Der Vater wollte ihn dort haben. «Ich war sicher eher mit einer Erwartungshaltung geladen als seine Mutter», gesteht Papa Hans Rüegg.

Er steht damit nicht allein da. Auch wenn Fälle wie Christoph Blochers Ems-Chemie, wo Magdalena Martullo-Blocher erfolgreich das Zepter führt, zeigen, dass Töchter genauso valable Nachfolgerinnen sind: Die Vater-Sohn-Konstellation ist mit Abstand die häufigste – und sie birgt Zündstoff. «Töchter haben es einfacher. Sie müssen keinen Vater-Sohn-Konflikt bewältigen», weiss Heinrich Christen, Partner und Leiter Family Business Center bei Ernst & Young.

Das Problem dieser Kombination: «Der Sohn muss gut sein, aber er darf nicht zu gut sein. Sonst hat der Vater schnell ein Problem», so Christen. Die Tradition fortsetzen, dem Vorbild des Vaters nacheifern: Das sind zwar nach wie vor wichtige Motive für Nachfolger. Dem gegenüber stehen der Wunsch nach Selbstver­wirklichung und die Angst, für immer festgelegt zu sein und Verantwortung zu tragen. Bei der Übergabe vom Gründer an die zweite Generation treffen zudem oft zwei Lebenswelten aufeinander: Der Vater hat das Business als Selfmademan aufgebaut und als Bauchmensch geführt – der Sohn übernimmt den Job als CEO mit einem Uniabschluss in der Tasche und forciert den strategischen Approach.

Absturzpotenzial am grössten

Wenn Gründer die Firma übergeben, ist laut Christen das Absturzpotenzial am grössten. «Der Patron will ein Ebenbild, doch dieses kann auch eine Bedrohung sein», sagt Ladina Schmidt, stellvertretende Zentrumsleiterin des Instituts für Angewandte Psychologie der ZHAW-Fachhochschule. Wenn Söhne sich vor der Übernahme auf dem freien Markt beweisen könnten, tankten sie Selbstbewusstsein – ein Must für die spätere Zusammenarbeit mit dem Vater.

«Mich woanders zu beweisen, war mir sehr wichtig», sagt Michael Sieber. Der 37-Jährige machte eine Logistikerlehre und den Master in Logistik-Management. Sein Bruder Christian (40), mit dem er seit 2011 die familieneigene Sieber Transport AG im Kanton St. Gallen leitet, sammelte nach dem Wirtschaftsstudium an der Fachhochschule Erfahrungen in einem Beratungsunternehmen.

Der Vater ist als Verwaltungsratspräsident noch Sparringspartner. «Natürlich schliessen wir uns bei Bedarf kurz und fragen um Rat.» Auch die Rüeggs arbeiten Hand in Hand – obwohl sie charakterlich und bildungsmässig stark divergieren: Vater Hans kommt von der Ingenieurseite, der Sohn ist Ökonom. «Trotz des spürbaren Kontrasts zwischen meinem Sohn und mir ­ergänzen wir uns ideal und haben eine gemeinsame Vision – wir wollen die Baumann-Gruppe nachhaltig vorantreiben», so Hans Rüegg.

Nicht immer geht es so harmonisch zu und her. Berater Heinrich Christen wird häufig gerufen, wenn die Dinge bereits aus dem Ruder laufen und KMUs am ­Trudeln sind, weil die Stabübergabe zu misslingen droht. «Oft gelingt es gerade den Firmengründern nicht, sinnstiftende, erfüllende Lebensinhalte aufzubauen», sagt er. Auch der Trend zu Patchwork-Familien erschwert die Weitergabe des Familienerbes. Beispiel Bindella: Als Gastrounternehmer Rudi Bindella seine zweite Ehefrau, Barbla Bindella (von der er inzwischen getrennt ist), in die Firmenführung einband, zog sich der zweitälteste von vier Söhnen, Adrian, der bereits in den Startlöchern stand, zurück.

Rollenumkehr

Raum lassen, Distanz gewinnen: Das fällt nicht allen Vätern leicht. «Wenn der Vater nach dem Rückzug omnipräsent bleibt, dann dient das dem Ablöseprozess mitnichten», sagt Heinrich Christen. Für den Familienexperten ist klar, dass symbolische Gesten unerlässlich sind, um die Übergabe zum gelungenen Manöver zu machen. Firmenparkplatz in vorderster Reihe, das Chefbüro: Dinge, die dem Sohn zu übergeben sind. Und viel wichtiger: «Der Vater muss die Aktien zwingend dem Filius übergeben, sodass die Eigentümerschaft klar ist.»

Die Familie Ginesta hat sich an dieses Skript gehalten. Claude Ginesta führt den Zürcher Immobilienmakler mit Niederlassungen in Küsnacht, Horgen und Chur und mittlerweile 20 Angestellten seit 2006 als CEO. 80 Prozent der Aktien sind bereits in seinem Besitz. «Für mich war das extrem wichtig», sagt der 42-jährige HWV-Absolvent, der sich seine ­Sporen bei McKinsey und beim VZ VermögensZentrum abverdiente, bevor er ins Fa​milienunternehmen einstieg. ­

Allerdings ging die Übergabe der Papiere nicht geräuschlos über die Bühne; der junge Ginesta musste Druck machen. «Ich wollte unbedingt einen Fahrplan für die Aktienübergabe. Damit habe ich meinen Vater ziemlich gestresst», so Claude Ginesta, der sich noch gut daran erinnert, wie oft er als Kind die Gespräche der Eltern über das Geschäft mitbekommen hat. «Er kann sehr hartnäckig sein, weiss genau, was er will», sagt Vater André Ginesta. Auch bei der offiziellen Inthronisierung als CEO musste der Sohn etwas nachhelfen. «Eigentlich habe ich mir diesen Titel selber gegeben.»

Strategische Weichenstellung

Er führt das Unternehmen nun in dritter Generation – und steht vor entscheidenden strategischen Weichenstellungen. Das Maklerbusiness ist im Umbruch, ­Ginesta Immobilien in einer kritischen Grösse und im Sog der Digitalisierung. «Wir müssen über Partnerschaften, aber auch über eine Änderung des Geschäftsmodells nachdenken», so Claude Gines­ta. Sein Vater, der in Küsnacht direkt im Büro neben ihm residiert, hat als Verwaltungsratspräsident nach wie vor ein Wörtchen mitzureden. Ein Spaziergang sind die Auftritte vor dem Gremium nicht. Erst kürzlich fiel Claude Ginesta mit seinem Antrag auf ein neues Mitarbeiterreglement durch.

Die Corporate Governance funktioniert, weil man eine Grundregel für den reibungslosen Ablauf im Familienbetrieb eingehalten hat: den Verwaltungsrat mit Nicht-Familienmitgliedern zu besetzen. Ex-Migros-Chef Anton Scherrer sorgt im Gremium dafür, dass die kritische Distanz zum CEO gewahrt wird. Zuweilen entstehen dadurch aber auch kuriose Situationen. Da Vater André Ginesta dank seines Beziehungsnetzes immer noch Aufträge für die Firma akquiriert, muss sein Sohn nun über einen Bonus befinden. Claude Ginesta erinnert sich an die Zeit, als es umgekehrt war: «Als ich mit 29 Jahren in die Firma eintrat, war es mein Vater, der über die Höhe meines Bonus entschied. Ich empfand das damals irgendwie als demütigend.»

* Dies ist eine Abschrift des Bilanzartikels, welcher im Mai 2015 erschienen ist.