Sascha Ginesta, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Wohnungsmarkt in Graubünden. Am 11. März 2012 wurde die Zweitwohnungsinitiative angenommen, was ist seit dann passiert?
Direkt nach der Annahme haben wir einen regelrechten Bauboom gesehen. Alles was noch möglich war, wurde erstellt. Mit steigendem Angebot und gleichzeitig mässiger Nachfrage sind die Leerstände von 2012 bis 2018 gestiegen. Seit 2018 sehen wir jedoch den Einfluss der Verknappung des Angebots durch das Neubauverbot von Zweitwohnungen. Auch die Nachfrage stieg wieder und die Leerstände nahmen kontinuierlich ab.
Nun liest man vielerorts von stark steigenden Preisen und fast keinen Angeboten.
Das ist korrekt. Mit der Coronapandemie wurde die beschriebene Entwicklung noch zusätzlich beschleunigt. Seit Mitte 2020 ist die Nachfrage überdurchschnittlich angestiegen, und das schon beschränkte Angebot wurde noch knapper. Das hat einen Einfluss auf die Preisentwicklung.
Welchen Einfluss hatte die Zweitwohnungsinitiative bzw. das Zweitwohnungsgesetz auf den Erstwohnungsbau?
Zu Beginn hatte man die Erwartung, dass sich diese Initiative positiv auswirkt auf den Erstwohnungsbau. Das verbleibende Bauland kann ja nun nur noch für Erstwohnungen verwendet werden. Leider ist diese Erwartung nicht eingetroffen.
Warum nicht?
Nun, da gibt es unterschiedliche Gründe:
- Es hatten bereits vor der Zweitwohnungsinitiative viele Gemeinden eine Erstwohnungsquote bei Neubauten gekannt. Das heisst, es wurden mit den Zweitwohnungen auch automatisch Erstwohnungen erstellt. Das ist weggefallen.
- Das vorhandene Bauland wurde nicht verfügbar. Die Besitzer wollen es nicht bebauen und auch nicht verkaufen. Dies aus verschiedenen Gründen. Z.B., weil es Aussicht und Privatsphäre schützt oder es als Wertanlage dient. Eine Baulandhortung findet statt.
- Durch das revidierte kantonale Raumplanungsgesetz werden die Gemeinden gezwungen, Baulandreserven zu reduzieren. Das verhindert zusätzliche Neubauvorhaben für Erstwohnungen.
Damit kann man sagen, dass sich das Zweitwohnungsgesetz sogar negativ auf die Erstwohnungen auswirkt?
Ja, denn durch die beschriebene Angebotsverknappung und die Preisentwicklung ist auch der Druck auf eine heute als Erstwohnung genutzte, aber als altrechtliche Zweitwohnung geltende Liegenschaften gestiegen. Bei Verkäufen solcher Wohnungen geht praktisch immer eine Erstwohnung verloren. Dazu kommt nun, dass die Gemeinden die Folgen des Raumplanungsgesetzes und das Fehlen von nicht mehr verfügbarem Bauland künftig nicht mehr zu kompensieren vermögen. Das heisst, trotz steigender Nachfrage auch im Erstwohnungsbereich, kann auch hier das Angebot nicht erhöht werden. Es gibt in allen Bereichen einen Wohnungsmangel. Das ist eine toxische Mischung.
Vielerorts spürt man eine gewisse Resignation in dieser Situation. Sehen Sie Lösungsansätze?
Es gibt definitiv Lösungsansätze. Ich sehe ein Lösungsdreieck mit Handlungsfeldern und Massnahmen, bei denen die Gemeinden und auch der Kanton in der Pflicht stehen.
Wie sieht Ihr Lösungsdreieck aus?
Es besteht aus den drei Hauptfeldern, mit jeweils dazugehörenden Teilhandlungsfeldern:
1. Wohnbauförderung
1.1 Förderung von Erstwohnungsbau
1.2. Mobilisierung von Bauland im Eigenbestand
2. Massnahmen Zweitwohnungen
2.1. Auslegung Zweitwohnungsgesetz
2.2. Lokales Zweitwohnungsgesetz
3. Aktive Raumplanung
3.1. Strategie Wohnzonen und Gesamtrevision Ortsplanung und Baugesetz
3.2. Überarbeitung kantonales Datenblatt für den Bauzonenbedarf
3.3. Revision kantonales Raumplanungsgesetz
Das hört sich bereits sehr konkret an. Können Sie zu den einzelnen Handlungsfeldern auch schon mögliche Massnahmen nennen?
Ja gern. Die nachfolgend aufgezählten Massnahmen sind nicht abschliessend! Am besten beginnen wir mit den Massnahmen, wo die Gemeinden direkten Einfluss haben.
1. Wohnbauförderung
Zur Wohnbauförderung können z.B. ein Ausnützungsbonus für Erstwohnungen in Frage kommen oder finanzielle Anreize, wenn jemand seine Liegenschaft zu einer dauernden Erstwohnung wandelt, oder Hofstattrechte bei Übernutzung, wenn Nutzungsänderungen z.B. aus Hotel- oder Gewerbeliegenschaften zu Erstwohnungen stattfinden. Eigenes Bauland zu mobilisieren ist selbstredend. Da geht es darum, dass das Bauland im Eigenbestand der Gemeinden effizient eingesetzt und überbaut wird. Ob eine Gemeinde selbst baut, das Bauland in eine Wohnbaugenossenschaft oder Stiftung einbringt oder verkauft, hat jede Gemeinde individuell selbst zu entscheiden.
2. Massnahmen Zweitwohnungen
Beim Zweitwohnungsgesetz gibt es in der Anwendung Interpretationsspielräume bei einer Baubewilligung. Heute werden diese häufig grosszügig für den Zweitwohnungsbau ausgelegt. Die Bewilligungsbehörden könnten hier strenger werden und im Zweifelsfall für den Erstwohnungsbau entscheiden. Art. 12 im Zweitwohnungsgesetz gibt den jeweiligen Gemeinden bei unerwünschten Entwicklungen die Möglichkeit, lokal weitere Massnahmen zu ergreifen. Dies könnten z.B. folgende sein:
- Lenkungsabgabe bei Handänderung
- Erstwohnungsquoten bei Umbau und Neubau
- Einschränkung von Erweiterungen
- Einschränkung Ausbau schützenswerter Bauten
- Einschränkung Querfinanzierung Hotel
- Einschränkung bewirtschafteter Wohnungen
Diese Massnahmen müssen nicht zwingend für das ganze Gemeindegebiet gelten. Sie können auch nur für den für Erstwohnraum vorgesehenen Bereich angewandt werden. Ob und welche Massnahmen und in welcher Ausprägung sie angewandt werden, muss jede Gemeinde aufgrund ihrer eigenen Ausgangslage individuell entscheiden. Mir erscheint wichtig, nicht zu extreme Massnahmen zu wählen, sondern ein gut abgestimmter Mix. Es darf nicht zu einer Marktregulierung führen, sondern soll für die künftige Standortentwicklung die nötigen Richtlinien bieten.
3. Aktive Raumplanung
Die Gemeinden brauchen eine klare Strategie für ihre Wohnzonen. Für wen möchten sie Wohnraum schaffen und was sind deren Bedürfnisse? Kurz: Wo soll was für wen gebaut werden. Auf dieser Basis sind die Bauzonen in den entsprechenden Gebieten zu definieren und über das Baugesetz mittels Ausnützung, Gebäudehöhen etc. auszugestalten. Umzonungen von Bauland aus unattraktiven Wohnlagen an attraktivere können dabei auch eine Rolle spielen. Ebenfalls ein probates Mittel bei einer Baugesetzrevision ist die Überbauungspflicht von freien Baulandparzellen, womit der Baulandhortung vorgebeugt würde.
Und nun noch zu den beiden Teilhandlungsfeldern, bei denen der Kanton gefordert ist und auch der neu zusammengesetzte Grosse Rat und die Regierung dringend handeln müssen. Kurzfristig muss das Datenblatt zur Erhebung des Bauzonenbedarfs überarbeitet werden. Bei dessen Ausarbeitung wurden einige Fehler gemacht. So bezieht es sich ganz auf die Vergangenheit. Bei einer Prognose sollten aber auch die Zukunftsaussichten miteinbezogen werden. Die ersten Entwürfe basierten auf einer fehlerhaften Datengrundlage, und in den touristischen Gemeinden wurde die Erst-/Zweitwohnungsthematik ausser Acht gelassen. Hier tun die neuen Grossrätinnen und Grossräte gut daran, dieses Thema rasch aufzugreifen. So könnten die Gemeinden in der Raumplanung ihre Perspektiven und Handlungsspielräume zurückgewinnen. Mittelfristig wird man kantonal aber wohl auf nationaler Ebene das Raumplanungsgesetz revidieren müssen. Dieses ist zu einheitlich abgefasst und berücksichtigt die verschiedenen Ausgangslagen in den unterschiedlichsten Regionen nicht genügend. Raumplanung in Maienfeld, Trun oder Vaz/Obervaz könnte unterschiedlicher nicht sein; ein Vergleich mit Zürich oder dem Jura wollen wir schon gar nicht versuchen.
Es ist offensichtlich die Politik am Zug?
Ganz genau. Gewisse, eher kurzfristigere Massnahmen können die Gemeinden initiieren und umsetzen. Für die mittelfristige Entwicklungsperspektive wird jedoch zwingend der Kanton mit dem Raumplanungsgesetz gefordert sein. Nur mit ausreichend Bauland können sich die Gemeinden entwickeln. Das muss ein Dauerthema im Grossen Rat werden, und der Druck auf die Regierung aus den betroffenen Regionen muss steigen.
Vielen Dank, Sascha Ginesta, für dieses spannende Gespräch.
Sascha Ginesta (Immobilienbewerter mit eidg. FA) ist
Leiter Vermarktung Graubünden und Partner bei der Ginesta Immobilien AG