«Die Politik muss den Bau von Erstwohnungen ermöglichen»

Artikel in der Engadiner Post vom 23. Dezember 2021 von Reto Stifel

Das Ziel, dass mit Annahme der Zweitwohnungsinitiative weniger gebaut wird, ist erreicht. Zu wenig Bautätigkeit ist aber auch nicht gut, da es an Wohnungen für Einheimische fehlt. Gefordert ist die öffentliche Hand. Davon ist der Immobilienmakler Sascha Ginesta überzeugt.

 

Engadiner Post: Herr Ginesta, der Immobilienmarkt läuft wie geschmiert, das muss Sie als Immobilienmakler freuen?
Sascha Ginesta: Natürlich freut uns das. Für uns sind aber weniger die Preistrends entscheidend als viel mehr, dass Transaktionen stattfinden. Schlechter wäre es, wenn es kaum einen Markt gäbe, wie das vor rund fünf Jahren der Fall war ...

... aber je höher die Preise sind, desto mehr Provisionen verdienen Sie?
Die Volumen haben einen gewissen Einfluss, das stimmt. Aber sie sind nicht aufzuwiegen mit der Anzahl Transaktionen. Wenn ich eine zehnprozentige Preissteigerung habe, aber dafür zwei Geschäfte weniger abschliessen kann, bleibt unter dem Strich weniger Geld in der Kasse.

Wo sehen Sie die hauptsächlichen Treiber für die gegenwärtige Preishausse?
Es gibt drei wichtige Themen und zwei Nebenschauplätze. Das knappere Angebot, welches primär mit den Auswirkungen der Zweitwohnungsinitiative zu tun hat. Dann haben wir pandemiebedingt einen starken Nachfrageanstieg. Drittens ist die Finanzierung extrem günstig. Als Nebenschauplätze bezeichne ich zum einen die Diversifikation des eigenen Anlageportfolios. Wer beispielsweise an der Börse Geld verdient hat, geht jetzt vielleicht in ein Immobilieninvestment. Auch für den Anleger, der sein Geld auf dem Konto hat und dafür Negativzinsen bezahlt, kann die Immobilie eine attraktive Alternative sein. Zum anderen ist es das veränderte Reiseverhalten, Ferien in den Schweizer Bergen sind in.

Gewisse Märkte performen stärker als andere, im Oberengadin sind die Preise höher als im Unterengadin. Könnte der Nachfragedruck auch im unteren Teil des Engadins steigen?
Wir sehen den Trend der steigenden Preise eigentlich in allen Bündner Tourismusregionen. Das Unterengadin ist auf tieferem Niveau gestartet, hat aber aufgeholt. Wenn wir das prozentual betrachten, sind eigentlich alle Ferienorte über die letzten beiden Jahre gesehen, in einer ähnlichen Entwicklung. Klar ist rein von den Transaktionspreisen her das Oberengadin immer noch an der Spitze.

Ist die gegenwärtige Entwicklung gesund?
Gesund vielleicht nicht, aber sie kommt auch wenig überraschend. Der Trend hat sich schon vor der Pandemie abgezeichnet, dass die Preise jetzt so stark steigen, ist Corona geschuldet. Seit dem Inkrafttreten des Zweitwohnungsgesetzes wird kaum mehr gebaut, ergo ist das Angebot knapp, was die Preise nach oben treibt. Das entspricht der Marktlogik und kann nicht per se als ungesund bezeichnet werden. Aber es ist eine Entwicklung, die vermutlich nicht ewig so extrem wie in den letzten Monaten weitergehen kann.

Sie haben die Auswirkungen des Zweitwohnungsgesetzes angesprochen. Hat das Gesetz auch negative Folgen, gerade für den Markt der Erstwohnungen?
Da muss man sich immer vor Augen halten, was mit der Zweitwohnungsinitiative bezweckt worden ist: keine neuen Ferienwohnungen mehr zu bauen, und dieses Ziel ist erreicht worden. Wenn aber gar nicht mehr gebaut wird, ist das nicht nur gut, vor allem auch für den Erstwohnungsmarkt, wo neue Wohnungen dringend nötig wären. Diese wurden vorher quasi im Kielwasser des Zweitwohnungsbaus miterstellt. Heute fehlt dieser Treiber für ein finanziell spannendes Projekt.

Es ist ja nicht so, dass es keine neuen Zweitwohnungen mehr gäbe, im Gegenteil. Das Gesetz bietet viele Schlupflöcher ...
... als Schlupflöcher würde ich diese nicht bezeichnen. Es gibt im Gesetz definierte Ausnahmen, beispielsweise der Ausbau von ortbildprägenden Bauten oder der zusätzliche Bau von Zweitwohnungen zur Querfinanzierung von Hotelbetrieben, es gibt Erweiterungsmöglichkeiten. Aber signifikant mehr gebaut wird nicht. Die Baubewilligungen gelten primär für den Ersatz oder Erweiterungen an bestehenden Objekten.

Fakt ist, dass ein sehr grosser Wohnungsbestand, die sogenannt altrechtlichen Wohnungen, die vor Annahme der Initiative bestanden haben, keinerlei Nutzungsbeschränkungen haben. Bei einer Umwandlung in eine Zweitwohnung hat der Einheimische das Nachsehen.
Das ist so, wenn wir von den Wohnungen sprechen, die vor dem 11. März 2012 gebaut worden sind. Diese sind gemäss altem Recht frei nutzbar, als Erst-, aber völlig legal auch als Zweitwohnung. Es findet rechtlich keine Umwandlung statt. Das war aber immer schon so und hat direkt nichts mit der Initiative zu tun. Für Erstwohnungen, die nach diesem Datum gebaut worden sind, gibt es so gut wie keine Schlupflöcher. Wenn die Gemeinde das seriös kontrolliert, darf in solchen Objekten niemand wohnen, der nicht hier Wohn- und Steuersitz hat. Das liegt in der Obhut der Gemeinden, und die tun gut daran, wenn sie das seriös kontrollieren.

Aber es gibt auf nationaler Ebene politische Bestrebungen, das Zweitwohnungsgesetz aufzuweichen. Ein Beispiel ist die Motion von Nationalrat Martin Candinas, die verlangt, dass bei einem Abbruch und Wiederaufbau die Wohnfläche um 30 Prozent erweitert werden kann, auch für zusätzliche Zweitwohnungen.
Da geht es um bestehende Gebäude, die heute um 30 Prozent erweitert werden dürfen. Bei Abriss dürfen die 30 Prozent nach heutiger Regelung nicht erweitert werden, es darf auch nicht mehr Einheiten geben, und das Gebäude muss am gleichen Platz stehen. Das entspricht vielen anderen Bestrebungen der Politik, beispielsweise dem Verdichten oder dem energieeffizienten Bauen. Die schon bestehenden Gebäude sollen so effizient und nachhaltig wie möglich erneuert oder umgestaltet werden dürfen. Das verhindert keine einzige Erstwohnung, sondern ist eine Verbesserung der bestehenden Situation.

Wo sehen Sie denn die Problematik im Erstwohnungsbestand?
Dass Wohnungen langfristig als Ferienwohnungen vermietet werden oder dass altrechtlichen Wohnungen, die bis jetzt als Erstwohnungen genutzt worden sind, verkauft werden. Und wenn sie verkauft sind, ist klar, was passiert: Sie werden in Zukunft als Zweitwohnungen genutzt. Das aber ist wie bereits gesagt legal. Auch ein Problem ist das knappe Bauland. Wo gibt es heute noch eine grüne Wiese, wo jemand ein Haus mit Mietwohnungen hinstellen kann? Am stärksten gefordert ist für mich die Politik darin, den Bau von Erstwohnungen zu ermöglichen und für das nötige Bauland zu sorgen.

Aber die öffentliche Hand hätte auch über das Zweitwohnungsgesetz Möglichkeiten, einzugreifen. Sie könnte beispielsweise die ungehinderte Umnutzung altrechtlicher Wohnungen einschränken. Ja, man könnte das Zweitwohnungsgesetz dahingehend verschärfen. Aber ich wage zu bezweifeln, dass da eine Gemeinde voranschreitet und entsprechend tätig wird.

Warum?
Zum einen ist die Wertschöpfung aus den Zweitwohnungen für die Kassen der Gemeinden sehr wichtig, Stichwort Handänderungs- und Grundstückgewinnsteuern. Zum anderen muss man sich die Frage stellen, wer bei einer solchen Verschärfung direkt betroffen wäre: Wieder der Einheimische, der 30, 40 Jahre hier gelebt und gearbeitet hat und plötzlich eine solche altrechtliche Wohnung nicht mehr als Zweitwohnung verkaufen dürfte. Die Wertvernichtung würde genau diesen Einheimischen treffen. Das Zweitwohnungsgesetz ist meiner Meinung nach heute schon sehr streng. Was damals nicht berücksichtigt wurde, ist, dass wir nach wie vor Bautätigkeit brauchen – für Erstwohnungen.

Wo könnte die Politik sonst noch aktiv werden?
Ich denke, bei der Richtplanung. Da sind die Gemeinden zurzeit gefordert, diese zu überarbeiten und mit der anstehenden Zonenplanrevision die richtigen Impulse zu setzen. Meines Erachtens müssten die Gemeinden sehr konsequent die Wohnzonen, die ihnen noch bleiben, in den bewohnbaren Lagen definieren, und zwar für den Einheimischen-Wohnungsbau, möglichst an zentraler Lage mit kurzen Wegen und hoher Ausnützung. Weiter gilt es, die noch vorhandenen Baulandreserven konsequent zu mobilisieren.Es gibt aber Grundstücke, die will der Eigentümer nicht bebauen, weil sie eine Aussicht stören oder die Privatsphäre beeinträchtigen. Diesem Problem kann mit durchdachter Baugesetzgebung entgegengewirkt werden. Was es unbedingt braucht, sind mehr Mietwohnungen. Ich habe den Eindruck, dass sich das Engadin schon seit Längerem aus dem Mietwohnungsmarkt verabschiedet hat. In anderen Regionen hingegen werden schöne Mietsiedlungen gebaut, im Churer Rheintal zum Beispiel. Ich spreche nicht von Wohnsilos oder klassischen Personalwohnungen, sondern von attraktiven Mietwohnungsblöcken mit vielleicht zwölf bis fünfzehn Wohnungen. Da passiert im Engadin wenig bis nichts. Auch weil die Baukosten höher sind als im Churer Rheintal, was die Rendite schmälert.

Sie sagen es. Private bauen solche Siedlungen nicht, weil die Rendite zu wenig attraktiv ist. Also ist die öffentliche Hand gefordert?
Ich sage nicht, dass Private nicht solche Siedlungen bauen. Wenn attraktive Parzellen zur Verfügung stehen, bin ich überzeugt, dass sich Investoren für solche Mehrfamilienhäuser finden lassen. Ich bin grundsätzlich ein Gegner davon, dass die öffentliche Hand als Bauherr für Wohnungen auftritt und direkt in den Markt eingreift. Für Land im Besitz der politischen Gemeinden gibt es zum Beispiel Möglichkeiten, diese in Wohnbaugenossenschaften zu überführen, welche nach definierten Statuten und Reglementen unabhängig und zielorientiert operieren. In den Städten wirken solche Wohnbaugenossenschaften sehr effizient der Wohnungsnot entgegen.

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