Der kurze Weg vom Parkplatz an der Strasse zur Kirche ist geräumt. Der Schnee lastet schwer in den Bäumen. Einige stehen bedrohlich schief im steilen Hang, andere habender Belastung des ersten Wintereinbruchs nicht standgehalten und sind umgeknickt. «Das gibt viel Arbeit im kommenden Sommer», begrüsst Immobilienberater Franco Giovanoli Rado Mrkonjic. Rado ist die gute Seele hier. Repariert, putzt, räumt den Schnee, pflegt den Umschwung. Und sorgt seit drei Monaten dafür, dass sich die ehemalige Kirche Nairs bei Scuol in bestem Licht präsentiert, wenn Franco Giovanoli mit potenziellen Käufern für eine Besichtigung erscheint. Seit September ist das frühere anglikanische Gotteshaus auf der Plattform von Ginesta Immobilien zum Verkauf ausgeschrieben. Der heutige Besitzer will sich von der Immobilie trennen, die er seit 1985 vor allem als Feriendomizil und Seminarort genutzt und laufend renoviert hat. 6,5 Zimmer, 275 m² Bruttowohnfläche, 90 m² Terrasse, ein Gewächshaus, 18 380 m² Umschwung, davon fast alles Wald, vier gedeckte Parkplätze. Kosten: 2,6 Millionen Franken.
Potenzielle Käufer überzeugen
Dies die nackten Zahlen. Doch wer eine ehemalige Kirche kaufen und darin wohnen will, den interessieren nicht nur die Zahlen. Hier beginnt die Arbeit von Immobilienberater Franco Giovanoli. Zwar haben sich die Interessenten, die meistens einen weiten Weg ins Unterengadin auf sich genommen haben, im Internet und in den Verkaufsunterlagen ein erstes Bild gemacht und auf einer virtuellen Tour die Kirche und den Turm bereits erkundet. Doch jetzt liegt es an Giovanoli, mögliche Käufer zu überzeugen, die Vorteile des Objektes hervorzuheben. Prunkstück ist der acht Meter hohe Kirchentrakt mit dem um einige Stufen erhöhten Chor. Von diesem führt ein grosses Bogenfenster hinaus auf die Terrasse. Giovanoli lobt den grosszügigen, offenen Grundriss, den vielen Platz für Essen und Wohnen, die originale Bausubstanz. Und ihm gefällt die Galerie, welche einen schönen Blick in den Kirchenraum eröffnet und im hinteren Teil als Hauptschlafzimmer und Büro genutzt wird. Unter der Galerie befinden sich die Küche und ein Badezimmer. «Das hier ist das älteste Closomat der gleichnamigen Schweizer Firma, welches noch genutzt wird», weiss er zu erzählen. Die beiden Lavabos stammen aus dem Hotel Scuol Palace, welches in 500 Meter Luftlinie von der Kirche entfernt steht und wieder einmal im Dornröschenschlaf ist.
Für englische Kurgäste
Das ehemalige Kurhaus Tarasp, später ergänzt mit der Trinkhalle Büvetta, war der Grund für den Bau der englischen Kirche Nairs. Der Erzbischof von Canterbury erteilte 1882 den Auftrag, am 3. September 1883 wurde die Kirche eingeweiht und diente fortan den vielen englischen Kurgästen, welche ins Unterengadin reisten um frische Luft zu tanken und gesundes Wasser zu trinken. Doch spätestens mit der grossen Wirtschaftskrise nach dem zweiten Weltkrieg erlosch der Glanz der Kuranlage, die Gäste blieben aus und die Kirche wurde zum Wohnhaus umgebaut.
Die Glocken läuten
Zur Liegenschaft gehört auch der direkt an den Kirchenraum anschliessende Turm mit drei Geschossen, die über eine enge, steile Treppe zu kleinen Zimmerchen führen. «Ideal, um die Gäste unterzubringen oder als Airbnb-Wohnung zu vermieten», sagt Giovanoli. Der Turm verfügt im Erdgeschoss über ein Badezimmer mit Toilette und einen kleinen Glockenturm mit funktionierender, handbetriebener Glocke. Einer Handvoll Interessenten konnte Giovanoli die Kirche bis jetzt zeigen. «Das beweist, dass das Interesse für spezielle Objekte vorhanden ist.» Er weiss aber auch, dass sich eine ehemalige Kirche nicht wie eine neue Loftwohnung in Zürich absetzen lässt. «Es kann sehr schnell gehen, wenn sich jemand auf den ersten Blick in das Objekt verliebt. Es könnte aber auch sein, dass die Kirche noch länger auf dem Markt ist, bis sie einen Interessenten gefunden hat.»Er kennt auch die Nachteile des Standortes der Kirche. Da ist vor allem die Lage, nur 50 Meter oberhalb der vielbefahrenen Kantonsstrasse. Aber auch die fehlende Anbindung an den öffentlichen Verkehr oder die wenigen Sonnenstunden im Winter könnte Kaufwillige abschrecken.
Holz hat es genügend
Es ist kalt geworden. Die Sonne schafft es an diesem kurzen Dezember-Tag nicht mehr über den Hügel. Beim Weg zurück zum Parkplatz fällt der Blick auf die an der Südwand der Kirche sauber gestapelten Holzscheite und von dort in den dichten Wald. Das Heizen für die kalten Winternächte dürfte kein Problem sein. Und für Nachschub wird Rado, die gute Seele der Kirche Nairs, im kommenden Sommer sorgen.