Artikel im RealEstateReport, Ausgabe 30, Juni 2021

 

Der Kuchen wird neu verteilt

Zurzeit sehen sich die Immobilienbewerter mit wachsender Konkurrenz aus dem Internet konfrontiert. Immer mehr Portale bieten Bewertungen von Liegenschaften zu sehr günstigen Preisen an. Wird es den klassischen Immobilienbewerter bald nicht mehr geben?
Von Remi Buchschacher

«Kleiner Markt, zu viele Firmen», titelte vor Kurzem die NZZ am Sonntag. Wer sich in den Werbespalten der elektronischen Medien umschaut, erkennt die neu entstandene Vielfalt: Vor allem Makler- und Bewerterportale kommen fast im Wochentakt neu auf den Markt. Das macht nicht nur die verkaufswilligen Immobilienbesitzerinnen unsicher, auch die klassischen Makler werden zum Teil hart attakiert und in ihrer Existenz in Frage gestellt. Angesprochen in den Werbezeilen werden vor allem Eigenheimbesitzer, doch auch Inseratetexte wie «Was ist Ihr Mehrfamilienhaus wert? Jetzt Marktwert kostenlos online ermitteln», erscheinen oft ungefragt bei der Nutzung von Google, Youtube etc. 

Nachfrage steigt

«Diese günstigen Angebote stärken nur die Nachfrage nach Bewertungsdienstleistungen. Noch vor wenigen Jahren kannte niemand den Fachbegriff der hedonischen Bewertung. Heute ist dies der Inbegriff für kostenlos oder kostengünstig angebotene Bewertungsmodelle», sagt Gunnar Gärtner, Präsident der Bewertungsexperten-Kammer des SVIT. Er ist zudem Inhaber und Geschäftsführer des Beratungsunternehmens COMRE AG mit Sitz in Zürich. Diese Modelle eignen sich aus seiner Sicht gut für Einfamilienhäuser, Stockwerkeigentum und bedingt auch für kleine Mehrfamilienhäuser. «Das Immobilienuniversum ist jedoch bedeutend grösser und komplexer. In der Immobilienprojektentwicklung sind fundierte Analysen unerlässlich. Der hochpreisige Immobilienmarkt fordert den Investor ebenso wie den Bewerter genau hinzuschauen, um bei maximaler Grundstücksausnützung noch wirtschaftlich kompetitiv agieren zu können», fügt er an. Die institutionellen Immobilienvermögen seien markant gewachsen, die entsprechend den regulatorischen Anforderungen regelmässig durch einen unabhängigen Bewertungsexperten zu validieren sind. Wie nicht zuletzt die neu geschaffenen Stellen bei allen grösseren Bewertungshäusern zeigen, sei die Nachfrage nach qualifizierten Immobilienbewertungen in den letzten Jahren deutlich gestiegen.

Doch sind diese günstigen Angebote, die in wenigen Minuten eine Schätzung abliefern, noch seriös? «Die günstigen Angebote erfüllen für den Anbieter ihren Zweck und dienen dazu, neue  Kundenbeziehungen aufzubauen. Unseriös wird es erst, wenn allein auf Basis einer hedonischen Bewertung, also ohne Unterlagenstudium und ohne Besichtigung, eine Immobilie zum Verkauf ausgeschrieben würde», ist Gunnar Gärtner überzeugt.

Digitale Abläufe gefordert

Die neuen Bewerter im Netz argumentieren oft mit digitalisierten Abläufen, was zu Kosteneinsparungen führe. Haben die klassischen Immobilienbewerter die Digitalisierung zu wenig ernst genommen? Gunnar Gärtner: «Die Digitalisierung im Bewertungswesen ist längst erfolgt. Die klassischen Bewertungsmodelle wurden durch DCF-Systeme abgelöst. Die Bewertungssoftwares sind heute datenbankbasiert und ermöglichen, die Zahlungsströme auf den Tag genau zu rechnen. Immobilienmarktdaten werden bereits standardmässig in die Bewertungsberichte integriert.» Allein die Datenschnittstelle zu den Liegenschaftsverwaltungen lasse noch Wünsche offen. Aber auch hier habe die Professionalisierung bei den grossen Bewirtschaftungsdienstleistern und Bewertungshäusern längst stattgefunden. «Selbstverständlich gibt es aber auch in unserem Verband noch Einzelmitglieder, die bevorzugt mit Papier arbeiten und in ihrem Büro wenig digitalisierte Prozesse haben.» 

Gärtner erlebt die Branche und insbesondere auch die akkreditierten Mitglieder der Bewertungsexperten-Kammer SVIT als äusserst dynamisch. Es gelte allerdings zu beachten, dass die  Immobilienbewertung eine Erfahrungswissenschaft ist. Auch mit einer überproportional hohen Anzahl an Marktdaten wird sich das Zusammenspiel von Baugesetzgebung, Bauzustandsanalyse, Marktresearch, Mietrecht und Ökonomie nur selten in Datenmodellen replizieren lassen. «Zugleich stimme ich mit den jungen Unternehmern der PropTechs vollauf überein, dass auch die Bewertungsbranche gefordert ist, sich in dem neuem Marktumfeld zu positionieren. Vorbei sind die Zeiten, in dem sich ein Immobilienbewerter kraft Amtes in diesem Berufsstand halten kann. Wir setzen darum auf ISO-Zertifizierungen und ein breites Weiterbildungsangebot für unsere Bewertungsexperten SVIT», hält der Bewertungsexperte fest.

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