Glanz und Elend eines Gesetzesartikels

Neubau, Umbau, Ausbau: Wer baut, bewegt sich in einem Spannungsfeld. Das kann nicht anders sein, denn Bauen findet in der Öffentlichkeit statt. Alle, die sich im öffentlichen Raum bewegen, sind der gebauten Umwelt ausgesetzt. Das öffentliche Interesse am Bauen ist evident, und darum wird das Bauen auch gesetzlich reglementiert.

Laut § 238 Abs. 1 PBG (Planungs- und Baugesetz des Kantons Zürich) sind Bauten, Anlagen und Umschwung für sich und in ihrem Zusammenhang mit der baulichen und landschaftlichen Umgebung im Ganzen und in ihren einzelnen Teilen so zu gestalten, dass eine befriedigende Gesamtwirkung erreicht wird; diese Anforderung gilt auch für Materialien und Farben.

Dass ein Gebäude bestimmte Anforderungen erfüllen muss, ist unbestritten. So muss ein Gebäude solide gebaut sein, damit es nicht einstürzt. Und es muss bestimmte Anforderungen an den Lärm- oder an den Umweltschutz erfüllen. Das sind harte Faktoren, die sich nachrechnen lassen. Aber was heisst das genau, dass ein Gebäude sich so in die bauliche und landschaftliche Umgebung einordnen soll, «dass eine befriedigende Gesamtwirkung erreicht wird»? Wer entscheidet darüber, ob ein Projekt diese Bedingung erfüllt?

Befriedigende Gesamtwirkung genügt

Zunächst zum Ausdruck «befriedigende Gesamtwirkung»: Im normalen Kontext muss ein Gebäude sich nicht «gut» einordnen, «befriedigend» reicht. Nur an bestimmten besonders heiklen Stellen (wie zum Beispiel in Kernzonen oder in unmittelbarer Umgebung von Schutzobjekten) ist es zulässig, eine «gute» Gesamtwirkung zu verlangen. 


Das Bernhard-Theater in Zürich (rechts, eröffnet 1984): Fleischkäse oder gelungene architektonische Ergänzung neben dem Opernhaus?

Der HEV Zürich schreibt dazu: «Daher darf die Behörde nicht schon deshalb eine Baubewilligung verweigern, weil sie ein Projekt für ästhetisch verbesserungswürdig hält. Nur ein qualifiziertes öffentliches Interesse rechtfertigt eine Einschränkung des gestalterischen Freiraumes.»1

Angesichts dieser rechtlichen Ausgangslage sollte man meinen, dass beim Bauen eine grosse gestalterische Freiheit herrscht und damit auch eine grosse architektonische Vielfalt einhergeht. Wenn man allerdings in Zürich und Umgebung die Neubauten betrachtet, können einem Zweifel kommen. Von gestalterischer Freiheit ist nicht viel zu sehen, von grossen architektonischen Würfen ganz zu schweigen. Schon eher kommt einem da der Ausdruck «Einheitsbrei» in den Sinn. Woran liegt das?

Steht vor der Fertigstellung: Neubau Wohnüberbauung Areal Hornbach. Umstrittene Überbauung in unmittelbarer Nachbarschaft des Chinagartens am Zürichsee.

In einem Artikel vom 5. Januar 2015 beschreibt die NZZ2 den Fall eines Bauherrn, der an der Weststrasse ein Haus umbauen und dabei zwei neue Dachgeschosse mit drei zusätzlichen Wohnungen bauen wollte. Die Denkmalpflege winkte das Vorprojekt durch, die gewünschte Aufstockung wurde jedoch verweigert mit der Begründung, das «Projekt vermöge sich nicht in die Dachlandschaft der Umgebung einzuordnen». Dabei bestritten die Behörden gar nicht, dass dem Bauherrn aufgrund der Ausnützungsziffer zwei weitere Wohngeschosse zugestanden hätten.

Rekurrieren oder nicht?

Natürlich kann man gegen solche Entscheide rekurrieren. Aber wenn man durch alle Instanzen geht, kann es ganz schön teuer werden – und unter Umständen auch ziemlich lange dauern. Im Kanton Zürich werden Rekurse vom Baurekursgericht behandelt. Als nächste Instanz folgen das kantonale Verwaltungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne. Bis zu einem definitiven Entscheid können gut und gerne zwei bis drei Jahre vergehen, und die Kosten können sich, die Ausgaben für einen Anwalt nicht einberechnet, schnell einmal auf mindestens 20’000 bis 30’000 Franken belaufen. 

Man kann den Bauherrn von der Weststrasse verstehen, dass er in Anbetracht der unsicheren Perspektiven auf einen Rekurs verzichtete. Er baute zähneknirschend nur 11 statt der im ursprünglichen Projekt 13 vorgesehenen Wohnungen. Dass dabei auch die vielbeschworene Verdichtung nach innen zu kurz kam, soll nicht unerwähnt bleiben.

Dass es auch anders geht, zeigt eine Fallstudie von Lukas Wolfer3. In diesem Fall ging es um eine Dachterrasse, für die die Bausektion der Stadt Zürich in erster Instanz die Baubewilligung verweigerte. Da es für Dachterrassen keine speziellen Vorschriften gibt, kann die Erstellung einer Dachterrasse nur gestützt auf den «Einordnungsartikel» § 238 PBG verweigert werden. Das betroffene Ehepaar rekurrierte gegen diesen Entscheid. Ein Augenschein vor Ort vonseiten eines Referenten der Baurekurskommission zeigte dann, dass kein Raum bestand für die generelle Verweigerung dieser Dachterrasse. Die Bewilligung für eine leicht redimensionierte Terrasse wurde in der Folge denn auch erteilt.

Das Zeitgenössische und das Altherkömmliche

Ein ganz anderes Kaliber, was die Dimensionen und die Auswirkungen auf das Stadtbild betrifft, ist der geplante Neubau eines fünfgeschossigen Geschäftshauses des Stararchitekten Calatrava am Bahnhof Stadelhofen. Für die einen ist es ein «Hochseeschiff», die anderen bezeichnen es als «gestrandeten Wal». Auch hier ging ein Rekurs ein, der sich auf die mangelhafte Einordnung des Projekts berief. Darin hiess es, «das Projekt passe nicht in die Umgebung und verletze Auflagen des Denkmalschutzes»4. Das Gericht befand: «Die Erhaltung der Eigenart schliesst nicht aus, dass zeitgenössisch-modern gestaltete neben altherkömmlichen Bauten Bestand haben oder sogar eine Bereicherung darstellen können.» Und weiter: «Das geplante Volumen erfüllt in seiner Dimension und Körnung die Kriterien einer besonders guten Einordnung in den städtebaulichen Kontext.»5 Die Baubewilligung für dieses Projekt wurde, wenn auch mit vielen Auflagen, im August 2020 erteilt. Obwohl dem Projekt nun sogar von Gerichts wegen «eine besonders gute Einordnung» bescheinigt wurde – Einigkeit darüber, ob das Gebäude von Calatrava sich nun wirklich «besonders gut» oder aber überhaupt nicht in seine Umgebung einordnet, wird wohl nie herrschen. Das Projekt soll 2023 fertiggestellt werden. Bald schon also können alle Interessierten einen Augenschein vor Ort nehmen. Für Diskussionsstoff ist gesorgt.

Geplantes Geschäftshaus von Calatrava am Stadelhofen: «Hochseeschiff» oder «gestrandeter Wal»?
Visualisierung: Calatrava Valls SA

Quellen:

1 Alber Leiser, HEV
2 NZZ: Die Odyssee eines Hauseigentümers
3 Lukas Wolfer: Keine neuen Dachterrassen auf Stadtzürcher Gebäuden?
4 Tages-Anzeiger: Neuer Calatrava-Bau: Jetzt gilts ernst am Stadelhofen
5 NZZ: Stadt Zürich erteilt die Baubewilligung für Santiago Calatravas «Hochseeschiff» beim Bahnhof Stadelhofen