Artikel TA Media 10.3.2022 von Beat Metzler

Drang nach oben

Hochhäuser boomen in Zürich und spalten die Bevölkerung. Worin der Reiz des Turmwohnens besteht, zeigt ein Besuch im 15. Stock bei unserem Geschäftsleitungsmitglied Stefan Schmid.

Aus Stefan Schmids Stube wirkt Zürich-Seebach wie ein Spielzeugmodell, klein und niedlich. Weder das Quietschen der Züge noch das Brummen der Lastwagen dringt durch die dicken Fenster. Die Stille drinnen lässt die Welt draussen noch entrückter erscheinen. Eine urbane Kulisse, bestaunbar aus cremefarbenen Sitzmöbeln. «Hier oben sieht man sogar Alpensegler», sagt Stefan Schmid. Eine Vogelart, die den Stadtboden meidet. Der 61-Jährige lebt knapp 50 Meter über Zürich-Nord, im 15. Stock eines Hochhausduos namens The Metropolitans, gelegen am Leutschenbachpark. «Als ich vor sechs Jahren hier einzog, war das doppelt exotisch», sagt Schmid. Er tauschte Zumikon, eine steuergünstige Goldküstengemeinde, mit einem ärmeren Stadtquartier, eine untypische Umzugsrichtung. 2015 gab es ausserdem kaum Wohnhochhäuser in Zürich-Nord. Seither sind dort weitere Türme entstanden. Das Hoch-über-der-Stadt-Wohnen war in Zürich lange eine Seltenheit. In den 60er- und 70er-Jahren baute die Stadt selber einige Wohntürme, das Lochergut zum Beispiel. Auch in Affoltern und Schwamendingen entstanden Blöcke mit über zehn Stockwerken. Sie galten bald als Symbole für ärmere Quartiere.

Bis zu 250 Meter hohe Türme

Dieses Image hat sich gedreht. Nach der Jahrtausendwende erstellten private Investoren in Zürich-West die ersten Türme mit teuren Wohnungen. Mit der neuen Beliebtheit der Städte habe auch diese Wohnform an Akzeptanz gewonnen, sagt der Immobilienentwickler Henrik Jason Stump. «Statt einer Wohnung im Seefeld suchen manche eine in der Höhe.» Derzeit erarbeitet das Amt für Städtebau ein neues Hochhausleitbild. Dieses dürfte die Zonen, in denen Hochhäuser erlaubt sind, deutlich ausweiten. Entlang des Gleisstranges könnten bis zu 250 Meter hohe Türme möglich werden. Manche Architektinnen und Stadtplaner bekämpfen diese Entwicklung. Zu dominant seien Hochhäuser, zu ineffizient, zu unökologisch. «Gestapelte Einfamilienhäuser» nannte sie ein ETH-Städteforscher. Die Zürcherinnen und Zürcher selber sind gespalten, wie eine Umfrage dieser Zeitung im Rahmen der städtischen Lokalwahlen ergeben hat. Eine knappe Mehrheit von 51 Prozent befürwortet 250-Meter-Türme. Am grössten fällt die Zustimmung bei Wählerinnen von FDP und GLP aus, am tiefsten unter Sympathisanten von Mitte, SVP und AL. Das Urteil des Wohnungsmarkts sei hingegen eindeutig, sagt Turmbewohner Stefan Schmid. «Das Produkt Hochhaus kommt sehr gut an.» Schmid arbeitet selber als Immobilienmakler. Vor rund neun Jahren übernahm er den Verkauf aller 212 Wohnungen in den geplanten Zwillingstürmen The Metropolitans. Unerwartet gut seien diese weggegangen, sagt Schmid, obwohl es wenig Vergleichbares gab. «Jedes dritte Gespräch führte zu einem Abschluss.» Bald war Schmid selber «infiziert». Er sicherte sich gleich zwei Wohnungen, die er zu einer einzigen, grossen zusammenlegen liess. Viele Käuferinnen und Käufer hätten vorher – wie er selber – nicht in der Stadt gewohnt, sagt Schmid. «Sie kamen aus den Zürichsee-Gemeinden oder sogar aus dem Bündnerland.»

Hochwertige Bausubstanz 

Der Erfolg von The Metropolitans hat laut Schmid mehrere Ursachen: eine ungewöhnliche Wohnform, hochwertige Bausubstanz, moderate Preise. Damals kosteten die Wohnungen in der Grösse von 75 bis 200 Quadratmetern zwischen 600’000 und drei Millionen Franken. «Heute dürfte der Preis schon um ein Drittel gestiegen sein», sagt Schmid. Beim benachbarten Projekt Wolkenwerk, das aus drei Türmen besteht, gibt es rund ein Jahr nach Eröffnung noch zwei doppelstöckige Penthouses zu kaufen. Preis: rund 2,75 Millionen Franken. Der Rest der über 300 Wohnungen ist verkauft oder vermietet. «Schon ein Jahr vor Fertigstellung waren die meisten weg», sagt Projektentwickler Stump. Den Zürcher Drang nach oben sieht Peter Schwehr skeptisch. Der Architekturprofessor an der Hochschule Luzern forscht über Hochhäuser. Deren Hauptproblem sieht er darin, dass sie bisher «kaum einen Beitrag leisten zum günstigen, verdichteten Wohnen». Ihr Bau koste deutlich mehr als jener von fünf- bis sechsgeschossigen Häusern. Das liege an der aufwendigen Konstruktion und Erschliessung sowie an strengen Auflagen zum Beispiel beim Brandschutz. «So entstehen teure Wohnungen für Menschen, die sich viel Platz leisten können», sagt Schwehr. Der Wohnflächenkonsum sei überdurchschnittlich gross in Hochhäusern. Aufgrund der Schweizer Baugesetze dürfen Hochhäuser nicht eng aneinanderstehen, sondern müssen Abstand halten zu anderen Gebäuden. Dadurch ermöglichten sie trotz ihrer Höhe kaum zusätzlichen Wohnraum auf einem Grundstück, sagt  Schwehr. «Hochhäuser bedeuten meistens mehr Baumasse für Privilegierte, aber keine Verdichtung.» In Hochhäusern herrsche zudem eine grössere Anonymität, da der Lift Bewohnerinnen direkt vor die Wohnungstür bringe. «So verlieren Treppenhäuser ihre soziale Funktion», sagt Peter Schwehr. 

Gemeinsame Dachterrasse 

In der Forschung gehe man davon aus, dass Menschen in Hochhäusern wegen der «Losgelöstheit» ihrer Wohnsituation auch einen schwächeren Bezug aufbauten zum Quartier. So entstehe ein Ungleichgewicht, sagt Peter Schwehr. Durch die Übergrösse prägten Türme das Stadtbild. «Aber sie leisten oft nur einen geringen Beitrag zur Belebung der Umgebung.»
Immer wieder heisst es, dass Hochhausbewohnerinnen den Lift in die Tiefgarage nehmen, um von dort per Auto loszufahren. Dadurch tauchten sie im öffentlichen Raum gar nicht auf. Diesen Eindruck habe er nicht, sagt Stefan Schmid. Er selber pendelt mit dem ÖV. Die meisten Einkäufe erledige er im Quartier. «Dabei sehe ich oft Leute aus den Metropolitans auf der Strasse.» Schmid sagt, dass er die Anonymität seiner Wohnung schätze. «In dieser Höhe braucht man auch keine Rollläden.» Trotzdem pflege er den Kontakt mit den Nachbarn. Zum guten Zusammenleben würden zwei Orte beitragen, die allen Bewohnenden offenstünden: die Eingangshalle und die Skylounge, wie die Dachterrasse im 20. Stock heisst. Die beste Aussicht – man erkennt noch einige Berge mehr als aus Schmids Wohnung – können also alle geniessen. 

Lift als Begegnungsort 

Der Immobilienentwickler Henrik Jason Stump sagt, dass sich die Menschen in den Aufzügen von Hochhäusern sogar häufiger begegneten als in Treppenhäusern gewöhnlicher Häuser. «Die Anonymität von Hochhäusern ist ein Vorurteil.» Das neue Stadtzürcher Leitbild soll weiter dafür sorgen, dass sich Hochhäuser besser in die Stadt einfügen. Auch günstige Wohnungen soll es geben in den Türmen. In diesem Bereich werde viel geforscht und ausprobiert, sagt Schwehr. Eine Pionierrolle übernimmt die Zürcher Genossenschaft ABZ. Sie plant auf dem Koch-Areal ein 85-Meter-Hochhaus, in dem es 30 Prozent subventionierte Wohnungen geben wird. Dank ihrer grossen Erfahrung habe die ABZ die Baukosten tief halten können, sagt Sprecher Ariel Leuenberger. Im Genossenschaftshochhaus sollen je drei Stockwerke eine Einheit bilden. Treppen und Gemeinschaftsräume werden die Wohnungen darin verbinden.

So möchte die ABZ Begegnungen ermöglichen. Peter Schwehr hält das für einen vielversprechenden Ansatz. «Es wird aber anspruchsvoll bleiben, günstige Hochhäuser zu bauen, die gut in die Stadt passen.» Stefan Schmid hat seinen Umzug in den Himmel von Leutschenbach «noch keine Sekunde bereut», wie er sagt. «Die Aussicht ist immer wieder toll». Wie zur Bestätigung färbt die Abendsonne die verschneiten Alpengipfel am Horizont orange ein.

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